Über den Wasserwelten
Der Junge mit der gelben Badehose legt die Gitarre beiseite, und die junge Frau, deren Stimme über drei Oktaven reicht, verstummt. Aber ihre Melodien, vorgetragen am Ufer in Riva del Garda, werden noch eine Weile in unseren Köpfen nachhallen. Umso mehr, da wir – Fotograf Jens, unser Kumpel Sebastian und ich – nun den Trubel verlassen und für ein paar Tage die stille Welt der Gardaseeberge erwandern wollen.
Seit Langem träume ich davon, dort oben durch einsame Gebirgslandschaften zu wandern, spektakuläre Aussichten zu genießen und abends in den See zu springen. Das Angebot an aussichtsreichen Touren ist hier im südlichen Trentino besonders groß – wo fallen sonst schon Berge 1000 oder gar 2000 Meter tief in einen See ab?
»Wer früh morgens startet, genießt angenehme Temperaturen und hat die Wege oft für sich alleine«, sagt Cinzia vom örtlichen Tourismusverband. Tipp Nummer zwei schiebt sie gleich hinterher: »Nur fünf Kilometer westlich des Gardasees liegt der Ledrosee. Die Wanderungen um ihn herum bieten mehr Ruhe als hier am Großen.« Nach einem Blick auf die Karte einigen wir uns auf vier Gipfel: Neben der Cima Pari (1988 m), die nördlich des Ledrosees aufragt, wollen wir den Monte Corno (1732 m) südlich des Ledrosees und den Monte Carone (1621 m) zwischen dem Garda- und dem Ledrosee besteigen. Ein wenig aus dieser Reihe tanzt der Monte Brione: Mit seinen 376 Metern ist er eher ein Hügel, der die Küstenorte Torbole und Riva del Garda am Nordufer des Gardasees trennt. Der »Spaziergang« hinauf lohnt sich allerdings sehr, denn oben auf dem sichelförmigen Kalkblock fühlt man sich fast wie am Meer. Über 50 Kilometer Wasserfläche trennen einen hier vom gegenüberliegenden Ufer.
»Der Ledrosee befindet sich auf 655 Metern Höhe. Wir werden also einiges an Höhe machen«, stellt Jens fest. Eine Fersenverletzung vom letzten Mountainbike-Abenteuer macht sich bei ihm immer noch bemerkbar. »Die Touren gelten aber technisch als relativ einfach«, versichere ich optimistisch und öffne ein Fenster. Die Innentemperatur von Jens‘ Bus, in den wir uns gerade gesetzt haben, gleicht der eines Pizzaofens. Aus den Lautsprechern scheppert maximal italienisch »Azzurro« von Adriano Celentano, und wir verlassen Riva mit seinem Torre Apponale, einem 35 Meter hohen Uhrturm aus dem Jahr 1220, der gut sichtbar aus dem Hafen aufragt. Nach zwanzig Minuten Fahrt steigen wir in Mezzolago am Ledrosee wieder aus und fallen in die Betten einer netten kleinen Pension.
Wie ein Spiegel liegt der See in der Tiefe »Auf geht’s zur Cima Pari!« Sebastian versprüht gute Laune, als er am nächsten Morgen seinen Hüttenschlafsack in den Rucksack stopft. Vom kleinen Dorf Pieve di Ledro bei Mezzolago lässt sich der Fastzweitausender auf einer rund siebenstündigen Tagestour besteigen. Wer wie wir etwas entspannter unterwegs sein möchte oder einen humpelnden Fotografen dabei hat, dehnt die Runde am besten auf zwei Tage aus. Etwa vier Stunden dauert der 1100 Höhenmeter umfassende Aufstieg Richtung Norden zur Berghütte Rifugio Nino Pernici, wo wir übernachten werden. Tags darauf soll die Runde dann im Uhrzeigersinn über die grasbewachsenen Bergrücken der Cima Pari und Cima Sclapa (1885 m) zurück nach Mezzolago führen […].
>> Der komplette Text erschien im Magazin outdoor 10/2018, S. 32-41. Fotos: Jens Klatt. Verlag: Motorpresse Stuttgart GmbH.