Als Mountainbike-Grünschnabel in Südtirol. Ein Trailbericht aus Latsch.
Der Rhythmus der Jahreszeiten bremst uns aus. Wegen Neuschnee können wir den Reschenpass mit unserem Bus nicht befahren. Eine Stunde später wird uns auch in Latsch in Südtirol die Weiterfahrt verwehrt. Zwar nicht mit dem VW-Bus, dafür auf dem Mountainbike, denn: es schüttet.
Gregor verströmt Gelassenheit. „Wir tun das, was wir schon gestern hätten tun sollen: Tee trinken und Bücher lesen.“ Einer wie er wird erst in vierzig Grad steilem Gelände richtig wach, vor zwei Jahren ist er als Wirtschaftsflüchtling in die Schweiz ausgewandert. Seitdem brettert er ständig irgendwelche Trails hinunter.
Andreas und Christa, die morgen nachkommen, leben den gleichen Sport. Die Einzige, die den bevorstehenden Unternehmungen mit etwas gemischten Gefühlen gegenübersteht, bin ich. Mein emotionales Verhältnis zu hochalpinen Trails speiste sich bisher aus den Videos der Mountainbike-Legende Danny Mac Askill auf Youtube. Mit Ski oder Steigeisen an den Füßen klappt vieles, rollend auf zwei Rädern war ich bisher vor allem im Schwarzwald unterwegs.
Ich sitze auf der Matratze im Bus und schaue durch das beschlagene Fenster auf einen sanft vor sich hinplätschernden Steinbrunnen, neben dem wir auf einem Waldparkplatz stehen. Nebelschwaden erheben sich kriechend langsam aus dem Tal, um uns herum: Stille.
Mit dem Abend kommt der Schnee, doch wir lassen uns die Freude auf die kommenden Tage nicht vermiesen. Latsch zählt zu einem der besten Bikereviere der Alpen. Was die Region Vinschgau so unverwechselbar macht, ist die Kombination aus landschaftlicher Schönheit und einem Terrain, das alle Stücke spielt. Latsch zählt knapp 5.000 Einwohner und liegt am Eingang des Martelltals, zwischen Goldrain und Kastelbell-Tschars. Die liebliche Landschaft mit den Apfelbäumen im Tal, die Berge mit ihren Gletschern hoch oben und der mit 3.905 Metern alles überwachende Ortler, im Nationalpark Stilfser Joch, bieten reihenweise Spielraum für aktive Urlauber.
Die einzigen Grenzen, die einem hier beim Mountainbiken gesetzt werden, sind die eigenen. Doch man muss kein Trailjunkie sein, um auf seine Kosten zu kommen. Auch Freunde des entspannten Genussbikens und lernwillige Anfänger finden hier so ziemlich alles, was an dem Sport dranhängt: wurzelige, verblockte Waldwege, Klassiker der Transalp-Routen, einfach zu fahrende Höhenwege zu urigen Almen.
Beim Spaziergang nach Latsch kommen uns gerade mal drei Wanderer entgegen. Ansonsten sind wir alleine mit dem verwinkelten Ort und den Bergmassiven aus Schlerndolomit, die wie die Zähne eines gigantischen Unterkiefers in den Himmel ragen. An sonnigen Wochenenden herrscht hier ein Treiben wie an einer Berliner U-Bahn-Station – Deutsche inklusive. Eine steife Brise weht um unsere Kapuzen. Verträumt trotten wir zum Marktplatz, auf dem die Eisdielen heute geschlossen sind.
Wir spazieren durch den Ort, der – viel zitiert – wie ausgestorben aussieht. Irgendwo hinter diesen zig Kirchtürmen, Apfelbäumen und Bergmassiven liegt die Welt, aus der wir kommen, eine mit Flugplänen, Media Märkten und Wagenstandsanzeigern. Unsere Schlechtwettersicht beschränkt sich auf den Kontrast zwischen der fruchtbaren Talsohle und einer kargen Bergwelt. Südtirol, die nördlichste Provinz Italiens, beherbergt eines der größten Apfelanbaugebiete Europas. Durch Frostschutzberegnung werden die Blüten bei Minusgraden gespritzt. Alte Traktoren knattern zwischen den Plantagen hindurch. Wir lassen den Abend mit einem Besuch im Hallenbad ausklingen, „Gnade für die Wade“, sagt Gregor, während er wie eine laichende Kröte im brühwarmen Außenbereich am Beckenrand klebt.
Dass von Latsch ein Zauber ausgeht, erfahren wir am nächsten Morgen, nach dem ersten Blick aus dem Fenster: Weiß bestäubt strahlen uns die Bergketten an, ein überaus fotogener Kontrast zum leuchtend satten Grün im Tal. Die Sonne scheint auf uns hinab, als wolle sie sich für den vielen Regen und Schnee der letzten Tage entschuldigen. Wir spülen die Müdigkeit, die man so verspürt, wenn man früh morgens aus einem muffigen Bus kriecht, mit einer Tasse Kaffee hinunter. „Auf geht’s, hinauf zur Alm“, sagt Gregor, mit affektiertem Südtiroler Zungenschlag.
Unsere darauf folgenden Tage rund um Latsch erinnern ein wenig an ein Computerspiel, bei dem es darum geht, möglichst viele Höhenmeter zu sammeln, Hindernissen geschickt auszuweichen und in neue Terrains vorzudringen. Da sind unter anderem der Propain Trail, der Holy Hanson Trail, der Burgentrail und der Panoramatrail, die sich handtuchbreit und wild geschwungen in eine Landschaft aus Grün und Grau fräsen.
Level eins: Man kurbelt auf einem Forstweg bis zu einer Alm hoch und fällt in derselbigen über Kaiserschmarrn her, bis man sich auf Alm Nummer zwei einen Kaffee gönnt, und pappsatt durch den Wald auf fahrtechnisch moderaten Wegen zurück zum Bus gelangt. Level zwei: Man gelangt über sandige Wege im kurvenreichen Anstieg zu einer Burg, klettert auf die Brüstung, lässt sich von unten das Mountainbike reichen, sammelt Punkte beim Fotografieren, beißt auf halbem Anstieg in sein Käsebrot und donnert selbigen sandigen Weg wieder hinab. „Immer schön die Zeigefinger an die Bremsen, Sattel runter, Hintern raus, Ellbogen nach außen strecken“, sagt Christa durch ihren Fullface-Helm, und sie weiß, wovon sie spricht. Level drei: Steinstufen hochfahren ist die eine Herausforderung, vierstellige Höhenmeterangaben noch vor dem Mittagessen knacken die andere. Unser Proviant besteht aus Bananen und Nüssen, größere kulinarische Genüsse gibt’s erst am Abend.
Ich habe sehr viel Spaß in Latsch, obwohl ich mich ablege, mir Geröllsplitter um die Ohren fliegen oder ich mir zum x-ten Mal beim Auf- oder Absteigen die Pedale in die Waden ramme. Doch wer wie ich mit Leuten unterwegs ist, die ein Mountainbike auf die Wade tätowiert haben, weiß entweder, worauf er sich einlässt, oder gibt sich zumindest hier mit den unteren Levels zufrieden. In denen gibt’s wenigstens den Kaiserschmarrn.