Stadt, Land, Fluss: Auf dem Donauradweg von Regensburg nach Wien
Ich gebe zu: Der rund 430 Kilometer lange Donauradweg von Regensburg nach Wien ist kein Geheimtipp – aber nicht zuletzt wegen seiner landschaftlichen Vielfalt, den vielen Burgen, Klöstern und barocken Schlössern, den beeindruckenden Städten und idyllischen Weinterrassen hat er inzwischen Kultstatus. Genau deswegen machte ich mich im Juni 2018 auf den Weg. Mein Zeitfenster: Sechs Tage, inklusive An- und Abreise aus Freiburg mit der Bahn.
Biep, biep, biep. Sechs Uhr morgens, aufstehen. Eine Dreiviertelstunde später stehe ich mit meinem Trekkingrad auf Gleis 1 am Freiburger Hauptbahnhof. Am Gepäckträger sind zwei wasserdichte Fahrradtaschen befestigt und hinten am Schutzblech hängt mein billiges Wurfzelt, was nicht auf den Gepäckträger passte. Sieben Stunden später entlässt mich die Regionalbahn laut quietschend in Regensburg. Ich fahre mit steifen Beinen, vom langen Sitzen, ein paar Meter bis zu Europas zweitlängstem Fluss, der Donau.
Platz eins auf der Rangliste der längsten Flüsse belegt übrigens die Wolga, doch die liegt weitab vom Schuss in Russland. Auf seiner ca. 2.850 Kilometer langen Reise vom Schwarzwald bis ins Schwarze Meer verbindet der Donauradweg zehn Nationen und vier Hauptstädte, nämlich Wien, Bratislava, Budapest und Belgrad. Kein Wunder, dass die Donau seit jeher einer der bedeutendsten europäischen Handelswege ist, ein flüssiger Highway gen Osten.
Ich trete in die Pedale. Ab Regensburg geht es immer flussabwärts bis nach Wien, wo ich in vier Tagen sein möchte. Ein grünes Schild mit der weißen Aufschrift „Donauradweg“ zeigt die Richtung an. „Verfahren ist unmöglich“, denke ich, „immer dem Fluss hinterher“.
Im Laufe der Historie haben hier unter anderem die Kelten und Römer, Kaiser und Könige etliche Spuren hinterlassen. So findet man links und rechts des Donauradweges jede Menge imposante Bauwerke verschiedener Epochen. Ich freue mich auf alles, was noch kommen mag. Hier, kurz hinter Regensburg, schmiegt sich die Donau in ihr flaches, grün bewachsenes Bett. Postkartenständer schaukeln neben den Anlegestellen der Touristenboote im Wind. Passanten stehen am Ufer und machen Selfies mit sich und dem Fluss, führen ihre Hunde spazieren oder sitzen mit oder ohne Eis in der Hand auf Bänken. Rechts neben mir ertönt das gleichmäßige Rauschen einiger Autos, die über die A3 fahren. Die Eindrücke ziehen so gleichmäßig wie der Fahrtwind an mir vorbei. Es ist bullenheiß, dreißig Grad im Schatten.
Nach etwa fünf Stunden Fahrt durch kleine bayrische Dörfer mit den Namen Barbing, Friesheim und Bogen erreiche ich am frühen Abend Deggendorf, mein erstes Etappenziel. Deggendorf liegt am Fuße der Berge des Bayrischen Waldes, hat ca. 32.000 Einwohner und – wie es sich für Bayern gehört – eine beachtliche Vielfalt an Biersorten auf der Getränkekarte der Kneipe am Oberen Stadtplatz. Ich fahre durch den Deggendorfer Torbogen und bestelle ein Bayer Weizen mit Blick auf das Alte Rathaus.
Den besten Übernachtungstipp liefert ein Rennradfahrer am frühen Abend, der mich wenige Kilometer hinter Deggendorf überholt. Rund dreißig Minuten später und etwa acht Kilometer südöstlich von Deggendorf packe ich am Luberweiher mein grünes Zelt aus seiner runden Hülle. Die Sonne versinkt langsam am Horizont. Vier Angler sitzen auf Klappstühlen stillschweigend rauchend am Ufer. Ich puste meine gelbe Isomatte auf. Der Deckel meines Edelstahltopfes beginnt zu klappern, das Wasser kocht. Nudeln mit Pesto, unkomplizierter geht’s nicht.
Der Luberweiher, der vor einer Stunde noch silbrig glänzend in der Abendsonne lag, zieht sich gegen zehn Uhr abends eine Nebeldecke über. Ich krieche in meinen Schlafsack und schlafe tief. Auch am nächsten Morgen zeigt sich das Wetter von seiner besten Seite. Die Sonne strahlt auf mich hinab, als möchte sie sich beweisen. Ich starte den Tag mit einem Bad im See. Von Deggendorf sind es ca. 55 Kilometer bis nach Passau, meinem Mittagsziel. Drei Stunden Fahrt, das muss reichen. In Passau starten viele ihre Reise entlang des Donauradweges. Ich packe meine Campingausrüstung zusammen und verabschiede mich vom Luberweiher und seinen Anglern, die wieder in gleicher Reihung wie gestern Abend am See sitzen, als seien sie nie weg gewesen.
Auf der glitzernden Wasseroberfläche der Donau spiegeln sich die anstehenden Bäume und später die Dächer und Fassaden der italienisch geprägten Barockstadt Passau. Passau ist von Sträßchen mit den typischen Schwibbögen durchzogen. In der Ferne erhebt sich die grüne Hügellandschaft des oberösterreichischen Sauwalds.
Es sind Bilder wie diese, die die Strecke zwischen Passau und Wien zu einer der beliebtesten Radrouten Europas verhelfen. Auf kaum einem anderen Abschnitt der Donau begegnet man einer solchen Vielfalt an Landschaften und Kulturen wie hier. Grüne Tiefebenen schmiegen sich an steile Weinterrassen, frei stehende alte Bauernhöfe und pompöse Kaiser- und Bischofsstädte wechseln einander ab. Und – das Hauptargument für die Tour von West nach Ost: Man kann die Landschaften ganz entspannt genießen, denn es geht flussabwärts, immer der Strömung nach.
In Passau drängen sich Passanten durch die verwinkelten Gassen. Ich bleibe an einem kleinen Restaurant mit Holztischen und bunten Stühlen hängen, was Salate verkauft. Meine Landkarte und das kleine grüne Straßenschild lotsen mich anschließend zurück auf den rechten Donauweg. Ein paar Mal in die Pedale treten und schwupps – ist man wieder mitten in der Natur, fährt durch Kornfelder, vorbei an Klatschmohn und schier endlosen Wäldern. Ein Baum trägt ein Schild mit der Aufschrift „Landesgrenze“. Ab hier befahre ich österreichisches Terrain. Haarnadelgleich liegt kurz danach die Schlögener Schlinge vor mir, die 2008 zum „Naturwunder Oberösterreichs“ gekürt wurde. Die Donau formt eine Schleife, bevor sie weiter Richtung Osten fließt. Im Eferdinger Becken reihen sich Mais- an Spargelfelder, neben Erdbeerfeldern stehen Kirschbäume und dazwischen liegen alte Bauernhöfe. All das erinnert an Bilder aus Malbüchern aus meiner Kindheit. Etliche Radfahrer sind auf den unterschiedlichsten Gefährten unterwegs: Rennräder, Trekkingräder, Liegeräder, Laufräder und E-Bikes ziehen an mir vorbei oder ich an ihnen, je nach der Kondition beziehungsweise des Alters ihrer Besitzer. Überall sieht man Angler an den Ufern sitzen. Ich übernachte irgendwo kurz vor Linz am Ufer der Donau, etwas versteckt zwischen den Bäumen. Immer, wenn ein großes Schiff vorbeifährt, fürchte ich, dass mir das Wasser in den Zelteingang schwappt. Irrationale Ängste breiten sich ab und an bei mir aus, sobald ich alleine in der Natur übernachte. Ein Phänomen, was mich immer wieder einholt.
In Linz, dem nächsten größeren Stopp für den Vormittag, steuere ich zielgerichtet eine Apotheke an. An meinen Beinen hängen fünf Zecken von meinen Domizilen am Luberweiher und dem Schlafplatz am Donauufer, den ich gerade verlassen habe.
Ich besorge mir eine Zeckenzange und schlendere zeckenbehangen über den Flohmarkt neben der Apotheke. Alte National Geographic-Hefte reihen sich an Uhren mit Lederarmbändern und verkratzen Glasschatullen, in denen Schwarz-Weiß-Fotos von Personen liegen, die nur der Verkäufer kennt. Schleust einen der Flohmarkt in eine Zeitreise in die Vergangenheit, gibt Linz sein Bestes, futuristisch anzumuten: 2015 wurde Linz zur „Unesco City of Media Arts“ ernannt. Im „Ars Electronica Center“ an der Donau werden Technologien der Zukunft präsentiert. Das „Lentos Kunstmuseum“ beheimatet die wichtigste zeitgenössischste Kunst Österreichs. Für Museumsbesuche fühle ich mich allerdings nicht gewaschen genug und beschließe, Fahrt gen Osten aufzunehmen. Also zurück auf den schwarzen Kunstledersattel, die Plastikgriffe am Lenker und die quietschenden Pedale.
Hunderte Reifenumdrehungen weiter, vor Grein, verengt sich das Donautal. Ich fahre durch die wildromantische Landschaft des Strudengaus. Ein kleines Boot befördert mich und zwei Familien ans andere Ufer des Flusses. Dort, wo der Radweg die idyllischere Streckenführung hat, denn auf der linken Uferseite verläuft die B3. Ich radel an dem sanft vor sich hinfließenden Fluss entlang. Die Fließgeschwindigkeit der Donau ist an manchen Stellen so langsam, dass man denkt, sie würde stillstehen. Kleine Buden mit bunten Sonnenschirmen laden zu Kuchen, Bratwurst, Eis oder Radler ein. Ich bleibe stehen. Der Marillenkuchen ist neben den Liegestühlen und der Musik („The Cat Empire“) das Totschlagargument, eine Pause einzulegen.
Wenige Kilometer weiter östlich stelle ich beim Örtchen Melk auf einem Campingplatz mein Zelt auf. Mein Nachbar, ein junger Spanier, bietet mir Datteln im Tausch gegen mein Campinggas an. Dem stimme ich zu und verschwinde anschließend in Richtung Dusche. Nichts ist wohltuender als eine Rundumreinigung und saubere Kleidung nach zweieinhalb Tagen Radfahren.
Die Etappe ab Melk gestaltet sich zäh. Ich habe mich an die lieblichen Landschaften, die vielen Burgen, Schlösser und Wälder gewöhnt und sehne mich nach Wien, der Stadt, über die ich schon so viel gehört habe und noch nie dort war. Ca. 120 Kilometer liegen vor mir, „aber es geht ja immer nur bergab“, denke ich. Ich trete in die Pedale, rolle durch die grüne Landschaft, die Donau stets an meiner rechten Seite, bis ich an einem Kraftwerk auf die rechte Flussseite wechsle. Die unzähligen, knapp vierhundert Kilometer stecken in meinem rechten Kniegelenk, was mir hin und wieder Schmerzen bereitet.
Irgendwann, als hätte ihr jemand das Kommando erteilt, tauchen sie auf. Die ersten Zeichen echter Urbanität. Hochhäuser treten aus dem Nichts auf. Schiffe mit einer Länge von zwei Fußballfeldern liegen am Ufer und tauchen die Böschung in ein gelbes Licht. Fahrradfahrer rollen mir entgegen, und zwar solche ohne Gepäck in Kleidung, die nicht aus Sportgeschäften stammt. Millionenstadt Wien, du bist zum Greifen nah. Mit meinen beiden Fahrradtaschen und dem grünen Zelt, was am hinteren Schutzblech hin und her baumelt, fühle ich mich in dem städtischen Szenario auf einmal wie ein Fremdkörper. Dabei habe ich die Natur erst wenige Kilometer flussaufwärts verlassen. Mein Rücken schmerzt vom Sonnenbrand der letzten Tage. Weiße Striemen an meinen braunen Füßen sind die Relikte meiner Sandalen, die ich auf den Gepäckträger schnallte. Ich bin barfuß unterwegs, die ollen Dinger schneiden auf Dauer in die Haut.
Als neben mir eine S-Bahn vorbeidonnert, ein Obdachloser seine Hand nach Geld ausstreckt und auf dem Campingplatz „Alte Donau“ ein Mann seinen tätowierten Oberkörper offenbart und erzählt, dass er mit den Hell’s Angels bis ans Schwarze Meer weiterfährt, denke ich kurz an die letzten Tage zurück. An den Verlauf eines Flusses, der so viele spannende Städte durchfließt und Geschichten parat hält, die man erleben sollte, solange man Rad fahren kann. Ich schreibe den zweiten Teil der Tour, von Wien bis ans Schwarze Meer, auf meine imaginäre To Do-Liste und überlege am Stephansdom mit einem Eis in der Hand, wann ich wohl Zeit haben werde, den Plan umzusetzen.