Schwer am Ringen: Von Chachapoyas zur Ruine Kuelap
Bei meiner ersten Busfahrt in Peru, von Lima nach Chiclayo, habe ich während eines waghalsigen Überholmanövers fast mein Leben gelassen. Und heute? Sitze ich mit demselben Fahrer im selben Bus, diesmal von Chiclayo nach Chachapoyas. Vielen Dank auch, wirklich. Irgendwie scheint sich der gute Fahrer in den Kopf gesetzt zu haben, mich deutlich vor der Pensionsgrenze ins Grab zu bringen.
Es ist neun Uhr abends. Unser blauer Bus schwankt in den Kurven von links nach rechts wie ein Uhrpendel. Meine Kolleginnen Anne, Linda, Juliane, Carina und ich nutzen das lange Wochenende, um dem Küstenort Pimentel, in dem wir wohnen, für ein paar Tage den Rücken zu kehren. »Chachapoyas und die knapp hundert Kilometer südlich gelegene Ruine Kuelap sind lohnenswerte Ausflugziele«, sagte meine Kollegin Linda und so besorgten wir uns Bustickets. Mir schwappt in den Kurven etwas von dem frisch servierten Schwarztee auf meine Hose. Linda neigt sich über ihre weiße Plastiktüte. Ein alter Mann in der Reihe neben mir nagt beharrlich an einem Hähnchenknochen. Wir sitzen im oberen Stock eines Doppeldeckers, dessen Windschutzscheibe ein etwa armlanger Riss durchzieht. »Die Beats, die aus den Boxen dröhnen, haben der Scheibe ihre Macke verpasst«, scherzt Linda trotz ihres miserablen Zustandes.
An Schlaf ist jedenfalls nicht zu denken. Ich kralle mich an dem Griff über meinem Sitz fest und ärgere mich bei dem Geschaukel, dass wir im unteren Stock keinen freien Platz ergattert haben. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, sagte Anne beim Einsteigen in den Bus. Hin und wieder reiche ich Linda ein Taschentuch. Die Arme, während jeder Busfahrt durch die Anden wird ihr schlecht.
Am nächsten Morgen um kurz nach sechs stolpern wir nach elf Stunden Fahrt unversehrt auf ein neues Pflaster: Chachapoyas. Die Straßen sind menschenleer. Etwas Nebel hängt in den Tälern. Der entspannte, weiß getünchte Ort war durch holprige, teils unbefestigte Straßen lange Zeit von der Außenwelt isoliert. Heute hat sich die Hauptstadt der Region Amazonas von einer hübschen Kolonialsiedlung zur geschäftigen Marktstadt entwickelt. Ein idealer Ausgangspunkt für Ausflüge. Besonders freue ich mich auf die Festungsruine Kualap, das Machu Picchu des Nordens, und Gocta, mit 771 Metern der vierthöchste Wasserfall der Welt.
Lange Straßenzüge durchziehen die Stadt. Schön, mal wieder in den Bergen zu sein. Letzte Nacht hatte es geregnet, das kommt in dem Küstenort Pimentel, in dem wir zurzeit wohnen, nur etwas dreimal im Jahr vor. Hier ist es anders: Das Gebirgsmassiv der Anden sorgt für ausreichend Niederschlag. Die Luft ist feucht, kleinere Berge um uns herum leuchten in einem saftigen Grün.
Verschlafen laufen wir mit unseren bunten Rucksäcken zu unserer Unterkunft. Einige Leute nicken uns zu. Beliebte Ausflugsziele bietet eher der Süden Perus. Hier, in Chachapoyas, werden Touristen noch neugierig betrachtet, da nur wenige die lange Fahrt hierher auf sich nehmen.
Im Hotel wartet Frühstück auf uns. Gebutterter Toast mit Marmelade, Kaffee und Orangensaft erwecken die Lebensgeister. Peruanischer Arabica-Kaffee hat einen Weltmarktanteil von ca. 60 Prozent. Viel bleibt nicht im eigenen Land und so trinken wir auch diesmal wieder Kaffee aus Sirup. Nach dem letzten Bissen Toast steigen wir in einen klapprigen Kleinbus um, der uns nach Kualap bringen soll. Es ist ein Toyota Hiace, das gleiche Modell, was ich mich damals nach der Schule durch Neuseeland begleitete. In diesem wurden Sitzbänke für bis zu zwanzig Personen montiert. An der nächsten Tankstelle wechselt der Fahrer mit wenigen Handgriffen einen Hinterreifen. Danach verlassen wir Chachapoyos. Über Schotterstraßen holpern wir über die Berge. Es ist schön, die Wüstenregion rund um Chiclayo für ein paar Tage zu verlassen und endlich wieder sattgrüne Berglandschaften zu sehen.
Gigantische Felsen aus Konglomeratgestein säumen eine von zahlreichen Höhlen durchsetzte Hangkante. Unser Fahrer trägt einen abgegriffenen Lederhut auf seinen langen grauen Haaren, hat braune Crocs an den Füßen und erinnert äußerlich an Crocodile Dundee. An seinem Mittelspiegel baumeln an einem Lederband die Reißzähne seines verstorbenen Hundes Peddy. Weiter unten im Tal rauscht ein Fluss. Zahlreiche Plastiktüten säumen den Straßenrand. Jeder Einkauf wird in Tüten verstaut. Der Straßenrand dient als Mülldeponie.
Grünbewachsene Bergflanken ziehen an uns vorbei. Die Luft wird dünn, Kuelap liegt auf ca. 3.100 Metern. Es ist eisig. »Vielleicht ist nur mir so kalt, weil ich letzte Nacht kein Auge zugetan habe«, denke ich. Nach einem kurzen Fußmarsch durch dichten Wald realisiere ich, dass sich alle Strapazen der Anreise lohnten: Wir stehen inmitten einer der imposantesten präkolumbischen Ruinen ganz Südamerikas. Eine monumentale, steinbewehrte Zitadelle thront auf einem zerklüfteten Kalksteinberg. Dahinter öffnet sich eine Rundumsicht auf das einst von den Chachapoyas bewohnte Land. Viel übrig geblieben ist von der Ruine nicht, doch man kann sich genau vorstellen, wie es zwischen etwa 500 und 1493 nach Christus hier aussah: Das aus kreisrunden Häusern bestehende Dorf war von einer massiven Festungsanlage umgeben. Wir ziehen die Köpfe ein und betreten die Ruine durch eines von drei tiefen, etwa armbreiten Toren. Es bestehen zwei Theorien, weshalb genau drei Eingangstore gebaut wurden. Theorie eins: Entweder sollten angreifende Truppen an der Stadtmauer zu mehreren gespalten werden oder – Theorie zwei: Erdbeben, Erosionen und bröckelnder Mörtel sorgten dafür, dass die Mauern heute nicht mehr an ihrem ursprünglichen Standort stehen.
Wir lugen in eine unterirdische Kammer, wo sich die Skelette geopferter Ziegen stapeln. Ich freue mich eher über die noch lebendigen Lamas neben uns und einen knallgrünen Kolibri im moosbewachsenen Baum. Es nieselt leise vor sich hin. Ich esse ein paar Maiskörner, die es am Parkplatz in einer kleinen Plastiktüte gab. Wir setzen uns an eine Hangkante. Jedes Dorf, an den gegenüberliegenden Hängen, ist von einem Kranz aus kleinen Feldern umgeben. Wie Flickenteppiche leuchten sie in verschiedenen Grün- und Grautönen.
Wir verlassen Kuelap auf dem gleichen Weg, auf dem wir gekommen sind, laufen zum Bus hinab und lassen uns irgendwo am Straßenrand an einem kleinen Restaurant absetzen, wo auch der Busfahrer eine Pause einlegt. Es gibt Huhn mit Reis, zur Vorspeise Maiskörner mit Aji, einer Chilisoße. Trotz tiefsitzender Müdigkeit schaffe ich es, anschließend einen gelungenen Abend zu haben: Linda lernt abends in Chachapoyas Victor, den Sohn unseres Hostelbesitzers kennen. Er hat morgen Geburtstag. Wir landen alle zusammen in der großartigen Bar La Reina in Chachapoyas. Als Victor uns nach dem zweiten Bier dazu einlädt, am nächsten Tag seine Tante auf ihrer Lamafarm zu besuchen, beschließen wir, unser Rückfahrticket auf den übernächsten Tag umzubuchen.