Einsame Spitze: Skitour auf die Sulzfluh im Rätikon
Es ist der Sternenhimmel, der uns ein vages Gefühl von dem Zauber der uns umgebenden Bergwelt vermittelt. Ein Teppich aus strahlenden Punkten überzieht den pechschwarzen Himmel, hell genug, um die Kulissen der schneebedeckten Riesen freizugeben. Die ca. drei Meter hohe Schneedecke in Gipfelnähe der Sulzfluh und der Wetterbericht für morgen (Sonne!) verheißen uns eine genussreiche Skitour.
Ich stehe in meiner grünen Daunenjacke neben Gregors rotem VW-Bus auf einem Parkplatz in St. Antönien, im Schweizer Rätikon. Wir befinden uns in der Ostschweiz, an der Grenze zu Österreich. Genauer gesagt trennt das Rätikon das Schweizer Prättigau vom österreichischen Montafon. Die Gegend gilt wegen ihrer zahlreichen Gipfel als Paradies für Skitourengeher.
Nachdem ich ein paar Minuten andächtig in den Sternenhimmels schaue, beschließe ich, unter die warme Bettdecke zu kriechen. Es ist eisig. Unser Plan für die nächsten drei Tage sieht, grob skizziert, so aus: Morgen wollen wir mit Tourenski an den Füßen knapp sechshundert Höhenmeter zum Winterraum der Carschinahütte aufsteigen. Dort übernachten wir, um am nächsten Tag den Gipfel der Sulzfluh (2.812m) in Angriff zu nehmen. Am gleichen Tag fahren wir zur Lindauer Hütte ins Tal ab, übernachten dort und steigen am letzten Tag wieder zur Carschinahütte auf, um anschließend zum Bus zurückzufahren. Unter anderem mit dabei: Gregor, ein Roggenbrot, eine Flasche Kräuterschnaps, eine Schaufel, eine Lawinensonde, ein Lawinensuchgerät, ein Daunenschlafsack und ein Beutel Couscous mit Gemüse.
Wir folgen dem Talverlauf ab St. Antönien bergauf und stapfen hinter einer Brücke links den Hang hinauf, bis uns nach einer Stunde ein frischer Lawinenkegel den Weg versperrt. Knapp zwei Meter hoch türmen sich Eisklumpen in der Größe von Medizinbällen am Hang auf. Mein Magen zieht sich bei der Vorstellung, darunter begraben zu werden, kurz zusammen. Wir trinken einen Schluck Tee und stehen zwei Stunden später vor der Carschinahütte, die mit ihrer hölzernen Verkleidung wie eine rustikale Alm anmutet.
„Die Sulzfluhrunde ist an einem Tag nicht zu schaffen, es sei denn, man verfügt über die Kondition einer Bergsteigerlegende oder eben von jemandem, der verdammt fit ist“, sagt Gregor nach einem Blick auf die Karte. In der Hütte erzählen uns drei andere österreichische Skitourengeher von den guten Schneeverhältnissen der letzten Tage. Wir werfen den Holzofen an. In dem kleinen Raum ist Platz für maximal zehn Leute. Wir sind zu siebt, passen alle in unsere Betten, aber zuerst an den kleinen Holztisch, auf dem sich ein Sammelsurium an altem Geschirr und Besteck stapelt. Couscous mit Gemüse landet auf Gregors und meinem Teller. Die anderen löffeln eine elfenbeinfarbene Fertigmischung aus einer Alutüte. Knüppelharte Schokolade und Kräuterschnaps gibts anschließend für alle.
Am Morgen zieht die aufgehende Sonne einen zartrosa Schleier über die Schneedecke. Mit klammen Fingern packen wir zusammen und machen uns auf den Weg zu unserem heutigen Tagesziel, der Sulzfluh. Wenn man von der Carschinahütte auf ihre Felsflanken blickt, die sich als grauer Tafelberg aus ihrer weißen Umgebung heben, scheint es aufgrund des steilen Terrains unmöglich, den Koloss mit Ski an den Füßen zu besteigen.
Ein Blick auf die Karte offenbart die Lösung: Wir queren den Bergfuß, bis wir nach einer Linkskurve vor einer schneebedeckten Steilwand stehen. „Auf geht’s, Ski abschnallen, am Rucksack befestigen und klettern“, sagt Gregor zwei Stunden später an Ort und Stelle.
Es ist irre steil. Wir ziehen unsere Helme auf. Ich greife meine beiden Skistöcke am unteren Ende, kurz über den Schneetellern, stecke die Stockspitzen als Eispickelersatz in den Schnee und gebe mir Mühe, nicht nach unten zu schauen. Tschak, tschak – alles, was wir hören, ist das Geräusch unserer Skischuhe, mit denen wir Stufen in den Schnee hacken. Mein grüner Tagesrucksack zieht mich nach hinten. Ich atme auf, als wir das Steilstück überwunden haben und lasse ich mich vor Erschöpfung auf den Rücken fallen.
Die erste Kletterpassage haben wir geschafft. Was folgt, ist vorerst einfacher: In Spitzkehren geht es durch ca. 35 Grad steiles Gelände bis an den Gipfelfuß der Sulzfluh. Durch felsiges Gelände gelangen wir auf den Gipfel, auf dem ein riesiges Stahlkreuz thront und einige andere, bunt gekleidete Skitourengeher in ihre Brote beißen. Vor uns eröffnet sich eine Bergwelt, die nicht beeindruckender sein könnte: Schneebedeckte Gipfel reihen sich aneinander. Vor uns reckt die Drusenfluh ihr weißes Gewand in den Himmel. Rechts daneben liegt auf österreichischer Seite die Tschaggunser Mittagsspitze.
Die Abfahrt durch den berüchtigten, sogenannten Rachen, einem Kessel zur Lindauer Hütte, ist eng und steil. An einer Stelle so eng und steil, dass ich nicht weiß, wie ich eine Kurve einschlagen soll, ohne den Hang hinunter zu purzeln. Ich schnalle die Ski ab, was Gregor zu Recht für eine vollkommen wahnwitzige Idee hält, klettere eine Felsstufe hinunter und versuche, den Hang per pedes zu queren. Klar breche ich bis zum Knie im Schnee ein, außerdem ist es irre anstregend. Nach ein paar Metern verliere ich die Balance und purzele auf dem Bauch den Hang hinunter.
Zum Glück nur ein paar Meter tief und zum Glück unverletzt. „Halleluja, was für eine Aufregung“, denke ich. In der Senke hat sich Triebschnee abgelagert. Meine Gedanken schweifen kurz zum Lawinenkegel vom Aufstieg zurück. „Immerhin sind wir nicht alleine“, sagt Gregor. Am Rand steigen weitere Skitourengeher auf. Zwischen den Fichten im Tal blitzt das Dach der Lindauer Hütte hervor.
Ich genieße die kommende Passage durch weniger steiles Gelände. Und die Spinatknödel auf der Sonnenterrasse der Lindauer Hütte noch viel mehr. Als Gregor vorschlägt, nach dem Essen noch mal rund 600 Höhenmeter zu einem Grat mit Kletterpassage aufzusteigen und danach im Steilgelände zur Carschinahütte abzufahren, entscheide ich, dass wir heute als letzte Klettermaßnahme die Leiter zu unserem Bett in Angriff nehmen. Für einen weiteren Aufstieg ist es eh viel zu spät.
Ich schlafe unruhig. Es mag an den Spinatknödeln liegen oder daran, dass ich vor dem Schlafengehen einen Wälzer mit den Lawinenunfällen vom letztem Jahr durchblätterte. Das Lawinenbuch schärft die Sinne für die Gefahren am Berg und ist so dick wie ein Telefonbuch. Dabei sind nur die Unfälle aus der letzten Saison in Österreich beschrieben.
Am nächsten Morgen ist der erste Blick aus dem Fenster vor allem eins: ernüchternd. Nebelschwaden hängen im Tal. „Oben Richtung Sulzfluh sieht es nicht besser aus“, sagt die Wirtin. Es hilft nichts. Wir müssen hinauf, durch das Drusentor den Grat überschreiten. In der Carschinahütte liegen unsere Daunenschlafsäcke, die wir ungerne dort zurücklassen möchten. Außerdem gelangt man von der Lindauer Hütte sowieso nicht zum Parkplatz zurück, wo unser Bus steht. Also los.
Nach einem sanften Talanstieg geht es in Spitzkehren, westlich der Sulzfluh, einen steilen Hang hinauf. Unsere Sicht beschränkt sich auf etwa zehn Meter. Oben am Drusentor, dem Eingang zum Grat, müssen wir abschnallen. Es wird zu steil. Ich befestige meine Ski am Rucksack und atme auf, als wir den Grat ohne Probleme überschreiten.
Das GPS-Gerät weist uns den Weg in Richtung Carschinahütte. Wir schnallen die Ski wieder an. Nach etwa zwei Stunden zögerlichem Voranrutschen in steilem Gelände erreichen wir die Carschinahütte. Am liebsten würden wir uns eine Runde hinlegen, doch dafür bleibt keine Zeit. Ich muss abends noch nach Freiburg, also weiter gehts. Erst unten im Wald verbessert sich die Sicht. Es geht noch einmal an dem Lawinenkegel vom Aufstieg vorbei, danach auf einem Fahrweg ins Tal hinab nach Sankt Antönien. Rätikon, ich komme wieder. Was für ein Abenteuer.